Umbaukultur statt Abriss: Wie eine neue Kultur des Bauens sehr viel CO2 einsparen kann
Entkerntes Hochhaus bereit zur Neugestaltung / © Achim Scholty for Pixabay
von Andreas Cattarius, Gebäudeenergieberater (HWK)
“Bauen im Bestand” wird auch heute noch zu oft noch als reine Kostenabwägung mit einem Neubau gesehen: Wenn es sich finanziell rechnet, wird lieber neu gebaut – gerade dann, wenn es sich um schlecht isolierte Nachkriegsgebäude aus Beton handelt.
Hier setzt sich jetzt allmählich ein Umdenken durch; vorhandene Bausubstanz wird nicht nur als kulturell wertvoll anerkannt, sondern auch zunehmend als ein Art Depot verstanden. Ein Depot, das historische Architektur sein kann, aber auch wiederverwendbarer Wertstoff.
Das Vorgefundene als Ressource
Das was wir in unseren Städten vorfinden, ist materielle und kulturelle Ressource. Es geht darum, den Bestand wertzuschätzen, neu zu interpretieren und zu schützen. Damit wird der Umbau selbst zu einem kulturellen Akt.
Wenn wir über Umbaukultur sprechen, müssen wir auch ein anderes Konzept erwähnen: Die UrbanMining-Kultur. Hierbei geht es ums Recyling der verbauten Bau- bzw. Rohstoffe, die ebenso vielfach wieder verwendet werden können. Alle Baustoffe des Gebäudes werden nach seinem Abriss wiederverwertet, also auch Anlagen, Fenster, Türen, Steine usw. Das wiederum bedingt einen behutsamen Rückbau des Gebäudes.
Doch heute sprechen wir über die Wiederverwertung eines ganzen Gebäudes. Die Ansätze sind unterschiedlich: es geht um “Ruinenästhetik”, Neu- bzw. Umfunktionalisierung, oder das gestalterische Spannungsfeld zwischen Alt- und Neubau.
Beispiel einer gelungenen Beziehung zwischen Alt und Neu: Der Eingangsbereich des Saarbrücker Schlosses wurde schon 1989 nach einem Entwurf Gottfried Böhms wiedererrichtet. / © Flicka für Wikipedia
Wo liegen die Bedürfnisse eines neu zu bauenden Gebäudes? Welche Funktionen muss es erfüllen? Welche energetischen Maßnahmen sind technischer Standard? Und kann das alles nicht auch mit einem bestehenden Gebäude erfüllt werden? Ein Gebäude, dass durch einen Umbau statt eines Neubaus sehr viel Energie und damit CO2 einspart und alle Eigenschaften repräsentiert, die auch ein Neubau zu bieten hätte?
Ästhetische Strategien eines Umbaus
In der Vergangenheit wurde zu oft auch von Architekten “Tabula rasa” gemacht; vorschnell wurden Gebäude, ja ganze Siedlungen geschliffen, aus dem Weg geräumt, um “etwas neuem Platz zu machen”. Dabei wurde zu oft Lebens- und Wohnkomfort dem individuellen Autoverkehr geopfert.
Mehr Wertschätzung für die baukulturellen Leistungen vergangener Epochen sowie das Bewusstsein für den identitätsstiftenden Charakter von bestehenden Bauwerken und gewachsenen Lebensräumen ist das Gebot der Stunde.
Bürgerzentrum Lleialtat Santsenca, Barcelona. Innenraum mit Sonnenschutzsegel, Architektur: H arquitectes, Barcelona, Spanien, Foto: Adrià Goula © Deutsches Architektur Museum
Transformation, Umnutzung und Bewahrung sind die Strategien einer gelungenen Umbaukultur. Bewahrung und Transformation – Hier kommt der Begriff “Ruinenästhetik” ins Spiel: Ein schönes Beispiel dafür ist die 2011 fertiggestellte Restaurierung des Neuen Museums in Berlin. Das im 2. Weltkrieg von Bomben schwer getroffene Museum ist ein beeindruckendes Beispiel des Zusammenspiels der Kriegsruine mit moderner Architektur.
Im aktuellen Buch “Bauen im Bestand” beschäftigt sich Georg Giebeler, Professor für Bauen mit Bestand, mit Gestaltungsfragen und plädiert für den selbstverständlichen unvoreingenommenen Umgang mit Altbauten. Für ein zurückhaltenes Weiterdenken des Vorhandenen, bei dem sich Neues nicht in den Vordergrund dränge.
“Ruinenästhetik” im Treppenhaus des Neuen Museums in Berlin / © Jean-Pierre Dalbéra für Wikipedia
Energetische Strategien eines Umbaus
Die Bauten, die nach dem Krieg schnell und günstig hochgezogen werden mußten, also etwa in der Periode 1945 – 1965, haben immer noch einen Anteil von ca. 38%. Und dies ist immer noch der größte Stellhebel, denn er birgt enorme Energieeinsparpotenziale.
Doch im Buch werden nicht nur konzeptionell mutige Umbauprojekte dokumentiert, sondern auch hochinteressante Denkanstöße für einen anderen Umgang mit dem gebauten “Erbe” geliefert.
In der Auseinandersetzung mit vorhandener Bausubstanz wird auch die Frage gestellt, ob nicht “das Bauen im Bestand gegenüber dem Neubau zu forcieren” wäre. Dazu müsse man “die ökonomischen Rahmenbedingungen ändern, damit der momentan meist teurere Umbau preiswerter” würde. Denn: “Würde man eine realistische CO2-Bepreisung einführen, so würden Abriss und Neubau automatisch teurer und Umbau günstiger.”
Vergleich der Kosten: Sanierung vs. Neubau / © Bundesstiftung Baukultur
Auch die Gesetzgebung könne man ändern. Sei es “wirklich sinnvoll, dass beim Umbau in fast allen Aspekten die hohen Neubaustandards einzuhalten” wären? Man könnte hier die Bauordnung durch eine spezielle Umbauordnung ergänzen. Es ließe sich die Eingriffstiefe in den Bestand und damit der Rohstoffverbrauch erheblich reduzieren.
Denkbar wäre auch, einen Umbau mit einem geänderten flexibleren (Umbau-) Baurecht auf dem Grundstück zu belohnen. Hierdurch ließe sich Sanierung und gegf. Nutzungsänderung im Vergleich zu einem Ersatz-Neubau kostengünstiger durchführen, ohne jedoch auf eine energieeffiziente Sanierung zu verzichten.
Der Start einer Bestandssanierung, jedoch ohne den einmaligen Charakter dieses “Hinterhof-Industriegbäudes” allzu sehr zu verändern / © Talpa for Pixabay
Erkenntnisse und Positionen
Die Baukulturwerkstatt Bielefeld widmete sich am 28.2. und 1.3. 2022 im Detail dem Schwerpunktthema des kommenden Baukulturberichts 2022/23 „Neue Umbaukultur“ und zeigte Ansätze für interdisziplinäres, nachhaltiges Planen und Bauen:
- Die Bereitschaft von Investoren umzubauen statt neu zu bauen, nimmt zu.
- Jedes Gebäude hat ein goldenes Energiepotential, das es zu wecken gilt.
- Die Trennung von Wichtigem und Unwichtigem spart Geld und schafft Qualität.
- Alt bleibt Alt – wir sollten Suffizienz(1) zum Maßstab machen!
- Es gilt den Zusatznutzen des Bestands zu erkennen und zu benennen – die Vollkostenrechnung spricht für den Bestand.
- Der Umbau braucht finanzielle Anreize und Förderung – eventuell kann es sich auch lohnen, den Selbstausbau einzurechnen!
- Es braucht einfachere Förderprogramme: aufsuchende Förderung und aktive Verwaltung.
- Die Kostensicherheit beim Umbau läßt sich durch ein vorlaufendes Gutachten stärken – Phase Null fördern!
- Kosten lassen sich durch Flexibilität optimieren – kein vorgegebenes Bild verfolgen!
- Die Überregulierung beim Umbau muss abgebaut werden – mehr Spielräume eröffnen!
- Hochrangige Staatspreise für den gelungenen Umbau ausloben.
- Umdenken meint wirklich umdenken, also einen Paradigmenwechsel!
(1) Suffizienz = Der Begriff steht in der Nachhaltigkeitsforschung, Umwelt- und Naturschutzpolitik für das Bemühen um einen möglichst geringen Rohstoff- und Energieverbrauch.
Fazit
Diese Ressourcen zu nutzen ist nicht nur ein Gebot der Vernunft, sondern birgt auch ungeahnte architektonische Potenziale, wie immer mehr zeitgenössische Umbauprojekte beweisen. Ihre Architektinnen und Architekten gehen selbstbewusst und experimentierfreudig mit dem Vorgefundenen um und liefern überraschende Antworten auf die Fragen unserer Zeit.
“Heute liegt die Hauptaufgabe im Gebäudebestand, für den dringend energetische Lösungen gefunden werden müssen. Durch die Sanierung der Gebäudebestände und die Sicherung einer weiteren Nutzung lassen sich – so unsere Berechnungen – gegenüber dem Neubau etwa 80 Prozent der Treibhausgas-Emissionen vermeiden.” erklärt Dr. Frank Maier-Solk, freier Journalist und Buchautor dazu.
Die in den letzten Jahren stetig gestiegenen baurechtlichen und privatrechtlichen Anforderungen können in Bestandssanierungen häufig nicht oder nur unter einem unverhältnismäßig hohen Aufwand erfüllt werden – das muss sich ändern!
Außerdem stehen hohe Haftungsrisiken, dem Planenden im Bestand gegenüber. Sie könnten durch günstige staatlich geförderte Risikobürgschaften abgedeckt werden. So kann verhindert werden, dass aus wirtschaftlichen immer wieder der Abriss mit Neubau der Sanierung und Neuentdeckung des Bestands vorgezogen wird.
Für die Architektur des 21. Jahrhunderts bedeutet der Umbau nichts weniger als einen Paradigmenwechsel.
Die Herausgeber Tim Rieniets und Christoph Grafe – beide Professoren mit Altbauerfahrung – beginnen den Band mit acht Essays, für die sie sich auch Verstärkung von anderen Autoren geholt haben, bekannten Vordenkern des Bauens im Bestand, etwas Muck Petzet oder Andreas Hild.
Umbaukultur – Für eine Architektur des Veränderns
ISBN: 3987410108
Herausgegeben von Christoph Grafe, Tim Rieniets
Verlag Kettler, Oktober 2022 – 360 Seiten
Oder ihr bestellt das Buch hier beim
Zu diesem Thema ist jetzt der
Baukultur Bericht 2022/23 – Neue Umbaukultur
erschienen.
Mit freundlicher Unterstützung: Deutsches Architektur Museum
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